BPI: Lieferengpass-Interview mit André Said
Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. hat einen neuen Themendienst zur "Produktion von Arzneimitteln“ auf seiner Homepage freigeschaltet. Der Untertitel lautet: "Made in EU? Mehr Liefersicherheit – weniger Engpässe“. Was bedeuten Lieferengpässe für den Berufsalltag von Apothekerinnen und Apotheker? Der BPI hat für die Themenseite dazu ein Interview mit Dr. André Said online gestellt, der die Geschäftsstelle der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) leitet und diese im Beirat für Liefer- und Versorgungsengpässe des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vertritt. Außerdem wird auf der Themenseite auf Zahlen des Deutschen Arzneiprüfungsinstituts e. V. (DAPI) zurückgegriffen. Das Interview mit Dr. André Said können Sie hier nachlesen:
BPI: Sind Engpässe bei Arzneimitteln in der Apotheke spürbar?
Dr. André Said: Lieferengpässe gehören seit vielen Jahren zu den größten Ärgernissen im Berufsalltag von Apothekerinnen und Apothekern. Das gilt für die öffentlichen Apotheken genauso wie für die Krankenhausapotheken. Es passiert fast täglich, dass ein Arzneimittel nicht verfügbar ist. Es nimmt dann oft viel Zeit in Anspruch, gemeinsam mit Ärztinnen und Ärzten, Großhandel und den pharmazeutischen Herstellern nach Lösungen zu suchen. Es geht ja vor allem darum, Schäden für die Patientinnen und Patienten abzuwenden. Bei einer Umfrage der AMK im Jahr 2016 bestätigten 80 bis 90 Prozent der befragten Apothekerinnen und Apotheker, dass in den vergangenen 3 Monaten Engpässe aufgetreten sind, die gesundheitliche Folgen für die Patienten hatten oder zumindest hätte haben können.
BPI: Welche Risiken bestehen denn für die Patientinnen und Patienten?
Dr. André Said: Die Umfrage der AMK zeigte, dass infolge eines Engpasses zum Beispiel auf ein weniger geeignetes Alternativpräparat oder eine weniger geeignete Darreichungsform ausgewichen werden musste. Apothekerinnen und Apotheker müssen verunsicherte Patienten dann angemessen beraten. Sonst besteht die Gefahr, dass das Ersatzpräparat falsch, unregelmäßig oder gar nicht eingenommen wird. Ein Engpass ist natürlich dann besonders gravierend, wenn es sich um lebenswichtige Medikamente handelt, wie etwa Zytostatika, Notfalltherapeutika oder einige Antibiotika, die gegen zum Teil schwere bakterielle Infektionen eingesetzt werden. Auch bei diesen versorgungsrelevanten Medikamenten gab und gibt es immer wieder Engpässe. Von der Verfügbarkeit dieser Medikamente kann es abhängen, wie groß die Überlebenschancen des Patienten sind.
BPI: Liefer- und Versorgungsengpässe sind schon seit vielen Jahren ein Problem und hängen demnach nicht nur mit der Coronapandemie zusammen. Welche Ursachen gibt es, wenn Medikamente nicht verfügbar sind?
Dr. André Said: Die Ursachen reichen von Naturkatastrophen bis hin zum Marktgeschehen. So haben zum Beispiel in der Krebsmedizin wichtige Präparate gefehlt, weil die zentrale Wirkstofffabrik in China Produktionsprobleme hatte; als Ursache wurde ein Erdbeben genannt. Oder es gibt Qualitätsprobleme bei der Produktion, etwa aufgrund von Verunreinigungen. Zudem spielen auch die Instrumente zur Preisregulierung eine zentrale Rolle. Beispiel frühe Nutzenbewertung: Wird einem neuen Medikament kein ausreichender Zusatznutzen bescheinigt, erreichen die Hersteller nach eigenen Angaben oft keine auskömmlichen Preise mehr für das Arzneimittel und ziehen es deshalb vom Markt zurück. Auch der erzwungene Preiskampf im Generikabereich hat sich verschärft, sodass die Hersteller die Produktion in Drittstaaten verlagern, wo die Wirkstoffe preiswerter und in großen Mengen hergestellt werden können. So kommt es, dass riesige Industrieanlagen in China oder Indien fast den gesamten Weltmarkt bedienen. Wenn es dort einen Zwischenfall gibt, wirkt sich das überall auf der Welt aus.
BPI: Welche Rolle spielt die Coronapandemie bei Lieferengpässen?
Dr. André Said: Die Coronapandemie hat die Situation verdeutlicht und mancherorts verschärft. Auf der einen Seite stand ein beschränkter Warenverkehr: So hat Indien zum Beispiel ein Exportverbot von bestimmten Arzneimitteln ausgesprochen – Arzneimittel, die das Land für den eigenen Bedarf zurückhalten wollte. Oder in China wurden Fabriken vorübergehend geschlossen, um die Mitarbeitenden zu schützen und die Ausbreitung der Virusinfektion einzudämmen. Auf der anderen Seite ist zu Beginn der Pandemie die Nachfrage gestiegen: So haben sich Patienten mit ihren Arzneimitteln bevorratet. Auch die Krankenhäuser waren gezwungen, sofern möglich, ihre Lagerbestände von Arzneimitteln für die intensivmedizinische Versorgung von COVID-19-Patienten hochzufahren. Aber es gab auch Fake News zu Beginn der Pandemie, wie etwa, dass das Schmerzmittel Ibuprofen das Risiko für einen schwerwiegenden COVID-19-Verlauf erhöhen würde. Daraufhin wurden die Bestände des Schmerzmittels Paracetamol in den Apotheken nahezu aufgekauft. Und nachdem Ex-US-Präsident Donald Trump den Wirkstoff Hydroxychloroquin als Wundermittel gegen COVID-19 beworben hatte, war das Arzneimittel für Patientinnen und Patienten mit bestimmten rheumatischen Erkrankungen zeitweise nicht mehr verfügbar.
BPI: Welche Erleichterungen brachte die sogenannte SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung für die Apotheken?
Dr. André Said: Diese Verordnung hat die Apothekerinnen und Apotheker enorm entlastet beim Umgang mit Arzneimittelengpässen. Sie sind damit flexibler, wenn sie bei Nichtverfügbarkeit die Patientinnen und Patienten mit Austauschpräparaten versorgen müssen. Wenn ein Präparat nicht erhältlich ist, kann zum Beispiel eine andere Packungsgröße, eine andere Anzahl an Packungen oder auch nur Teilmengen abgegeben werden – oder sogar nach Absprache mit der Ärztin oder dem Arzt ein Arzneimittel ausgesucht werden, das mit dem ursprünglich verordneten Wirkstoff vergleichbar ist. Die Apothekerinnen und Apotheker wünschen sich, dass diese „pharmazeutische Beinfreiheit“ auch unabhängig von der Coronapandemie erhalten bleibt.
BPI: Welche Möglichkeiten sehen Sie, um Lieferengpässe nicht nur gut zu managen, sondern auch zu beheben?
Dr. André Said: Man muss dabei an verschiedenen Stellschrauben drehen. Es wird zum Beispiel darüber diskutiert, dass in Deutschland wichtige Wirkstoffe für einen bestimmten Zeitraum auf Vorrat gelagert werden sollen. Auch die Rabattverträge haben eine konkrete Steuerungsfunktion. Bei der Ausschreibung sollte man Kriterien einfügen, um die Vielfalt an Anbietern zu erhalten, etwa indem Mehrfachvergaben von Rabattverträgen mit mehreren Wirkstoffherstellern vorgeschrieben werden. Sich abzeichnende Lieferengpässe müssten zudem vom pharmazeutischen Unternehmen frühzeitig bekanntgegeben werden.
BPI: Und wie sieht es mit der Rückverlagerung der Produktion nach Deutschland und in die EU aus?
Dr. André Said: Es ist wichtig, dass wir eigene Produktionskapazitäten haben. In einer ersten Stufe geht es deshalb vor allem darum, bestehende Kapazitäten nicht zu erlieren und zu verhindern, dass noch mehr Standorte schließen. Daneben kann man mittelfristig die bestehenden Produktionsstätten ausbauen und vielleicht ist es langfristig möglich, neue Standorte in der EU und in Deutschland zu schaffen. Möglicherweise bedarf es hierzu vor allem finanzieller Anreize oder man muss auf politischer Ebene bessere Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Arzneimittelpreise schaffen.