Offener Brief an Karl Lauterbach
Berlin, den 17.02.2023
Sehr geehrter Herr Bundesminister,
sehr geehrter Herr Professor Lauterbach,
nach den vielen Gesprächen nicht nur mit Ihnen, sondern auch mit vielen gesundheitspolitischen Expertinnen und Experten der Regierungsfraktionen, haben die 18.000 Apotheken-Teams in unserem Land, die Monat für Monat millionenfache Lieferengpässe bewältigen, große Hoffnung in Ihren Referenten-Entwurf zum Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) gesetzt.
All diese Erwartungen haben Sie mit diesem Entwurf enttäuscht. Das Papier lässt mich sowohl in meiner Rolle als ABDA-Präsidentin als auch als Inhaberin einer vor Ort versorgenden Apotheke fassungslos zurück.
Meine klare Erwartungshaltung an den Gesetzentwurf war und ist: Er soll dazu beitragen, die millionenfachen Lieferengpässe wirksam zu bekämpfen. Das wird aber nur dann gelingen, wenn Sie uns dauerhaft Entscheidungskompetenzen für den therapiegerechten Austausch von verordneten Arzneimitteln zugestehen. Wie verantwortungsvoll wir Apothekerinnen und Apotheker damit umgehen, haben wir in den letzten drei Jahren unter Beweis gestellt.
Ihr aktueller Entwurf zeigt mir leider: Sie scheinen diese Leistungen nicht zu würdigen. Stattdessen ist dieser Entwurf für mich ein Ausweis von Missachtung und Misstrauen uns Apothekerinnen und Apothekern gegenüber.
Ihr Gesetzentwurf steht in deutlichem Widerspruch zu dem im Koalitionsvertrag beschworenen Vorhaben, die Apotheken vor Ort zu stärken: Aus der angekündigten Apothekenstärkung wird eine weitere Apothekenschwächung!
All die Patientinnen und Patienten, die von Woche zu Woche mit einem immer kürzeren Geduldsfaden unsere Apotheken aufsuchen, werden durch diesen neuerlichen Entwurf nur noch schlechter versorgt. Während wir uns als Leistungserbringerinnen und -erbringer, Tag für Tag, Nacht für Nacht, für unsere Patientinnen und Patienten reinhängen, lassen Sie uns hängen. Damit ist es Ihnen zum wiederholten Male gelungen, meine Kolleginnen und Kollegen nicht nur zu enttäuschen, sondern auch zu demotivieren.
Sehr geehrter Herr Bundesminister Lauterbach, die Aufgabe Ihres Ministeriums bestand doch darin, mit einem geeigneten Gesetz eine zeitnahe und verlässliche Arzneimittelversorgung wieder sicherzustellen und Verbesserungen zu erreichen. Was haben wir aber stattdessen erhalten? Ein Gesetz, das Patientinnen und Patienten mehr belasten wird, das die Arzneimittelversorgung verlangsamt und zu mehr Bürokratieaufwand führt.
Wir Apothekerinnen und Apotheker mit unseren Teams lösen die Lieferprobleme, die durch andere erzeugt wurden – und das mit einem enormen zeitlichen und personellen Aufwand. Die als Engpass-Ausgleich geplanten 50 Cent können nur als Platzhalter für eine angemessene Honorierung verstanden werden. Oder sollen sie einen echten Symbolcharakter haben? Dann sind sie ein Symbol für die Geringschätzung und das Abqualifizieren der apothekerlichen Leistungen. Mit diesem schamlosen Betrag vergüten Sie 24 Sekunden Arbeitszeit. Wie soll das reichen, den zeitlichen und personellen Aufwand für das gesamte Management der Lieferengpässe abzufedern? Das tägliche Prüfen der Verfügbarkeit von Alternativen, die Auswahl, das Bestellen, die wiederholte Ärztinnen- und Arztrücksprache, die erneute Prüfung auf Verträglichkeit und die sich daraus ergebenden zusätzlichen Beratungen, der Botendienst – Herr Bundesminister, die Liste ist noch lange nicht erschöpft. All diese Tätigkeiten gehören zu unseren apothekerlichen Pflichten, die wir gewissenhaft und verlässlich zum Wohle der Patientinnen und Patienten erbringen.
Es sind heilberufliche Leistungen für die Gesundheit, für die Gesellschaft, für den Staat, die honoriert werden müssen, die selbstverständlich vergütet gehören! Wir fordern einen Engpass-Ausgleich, der sich an der tatsächlichen Arbeitsrealität und Arbeitslast der Apothekerinnen und Apotheker bemisst.
Die Regierung muss endlich damit beginnen, unser Gesundheitssystem nachhaltig aufzustellen. Hier arbeiten Menschen für die Versorgung Kranker – das muss auch in Zukunft nachhaltig gesichert werden! Mit weiteren Apothekenschließungen wird die Arbeitslast in den übrigbleibenden Apotheken weiter zunehmen, die Wege für die kranken Menschen werden länger, Wartezeiten steigen und eine flächendeckende Versorgungssicherheit kann nicht mehr garantiert werden. Ihre 50 Cent sind nicht einmal mehr als ein Pflaster zu verstehen, das aufgeklebt wird, sie sind ein Affront.
Sehr geehrter Herr Bundesminister Lauterbach, über dieses Problem hinaus droht mit Blick auf die SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungs-verordnung, die zum 7. April auslaufen wird, eine Regelungslücke, sollten die bewährten vor fast drei Jahren eingeführten, gelockerten Abgaberegeln Anfang April tatsächlich enden.
Dass die vielen Lieferengpässe nicht noch dramatischer ausfallen, liegt insbesondere an der vor drei Jahren eröffneten Austauschmöglichkeit für die Apotheken durch die SARS-CoV-2-AMVVO. Diese Entscheidungsspielräume für die Apotheke haben sich sehr bewährt! Den Patientinnen und Patienten kann bürokratieärmer und weiterhin therapiegerecht geholfen werden, wobei die Einsparungen für die Krankenkassen durch Rabattverträge in voller Höhe erhalten blieben, ja sogar ausgebaut wurden – dank der sehr verantwortungsbewussten Vorgehensweise der Apotheken.
Aus diesem Grund ist die gesetzliche Neuverankerung dieser erleichterten Austauschregeln für die Apotheken zwingend erforderlich. Die Austauschregeln geben Apothekerinnen und Apothekern Entscheidungsräume, die unserem heilberuflichen Auftrag gerecht werden und die Bürokratie abzubauen helfen. Nur mit dieser Beinfreiheit können wir auch die Arztpraxen vor Überbeanspruchung schützen.
Allerdings ist dieser Entscheidungsraum nur unzureichend gegeben, wenn Sie wie vorgesehen unsere apothekerliche Kompetenzerweiterung an die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erzeugten Arzneimittel-Listen koppeln. Diese Einschränkungen bedeuten eine bürokratische Hürde und verschärfen die Versorgungsprobleme. Listen hinken zeitlich immer hinterher, bilden niemals regionale Situationen ab, gelten nur für verschreibungspflichtige Arzneimittel und erfassen dadurch nur einen Teil der Lieferprobleme. Die bewährte Eröffnung von Entscheidungsspielräumen muss dauerhaft unbürokratisch und für alle Arzneimittel gelten – nur dann kann sie helfen.
Sehr geehrter Herr Bundesminister Lauterbach, unsere Apothekerinnen und Apotheker vor Ort bewältigen mit großem Erfolg zahlreiche Mammutaufgaben und beweisen, dass sie auch in Krisenzeiten unentbehrliche Partner sind, die Tag und Nacht verlässlich an der Seite der Patientinnen und Patienten stehen. Vor diesem Hintergrund ist es mir unbegreiflich, warum Sie das Potenzial, über das wir durch unsere Apotheken verfügen, nicht ausschöpfen, sondern eindämmen. In die gesundheitspolitische Debatte zur Zukunftsfähigkeit der Apotheken – das schreibe ich der Politik mit allem Nachdruck ins Stammbuch – müssen die Apotheken einbezogen werden. Die Regierung trägt die Verantwortung für 18.000 Apotheken und die dort tätigen 60.000 Apothekerinnen und Apotheker. Diese Verantwortung vermissen wir aktuell bei Ihnen, sollte sie Ihnen als Gesundheitsminister doch ein besonderes Anliegen sein.
Um Ihnen die Auswirkungen Ihres Gesetzentwurfs für die Apothekerinnen und Apotheker zu verdeutlichen, möchte ich nochmals um die Möglichkeit eines dringenden persönlichen Gesprächs mit Ihnen bitten.
Ihre
Gabriele R. Overwiening