Auswirkungen der Corona-Pandemie
Bei einigen Medikamenten kommt es zu Lieferengpässen. ABDA-Vorstandsmitglied Cynthia Milz warnt: Nicht nur Corona-Infizierten droht ausbleibende Hilfe. Frau Milz hat mit „ZEIT ONLINE“ ein ausführliches Gespräch geführt. Das Protokoll gibt es hier zum Nachlesen.
„Ich komme gerade aus einer 24-Stunden-Schicht, Tag- und Nachtdienst. In unserer Apotheke erleben wir gerade Tage, an denen unsere stressigsten Phasen des Vor-Corona-Alltags wie Spaziergänge wirken. Zu Beginn der Corona-Krise wurde plötzlich Paracetamol knapp. Viele hamsterten das Schmerzmittel für ihre Hausapotheke, weil bei Ibuprofen über Risiken im Zusammenhang mit Covid-19 spekuliert wurde. Dabei ist Paracetamol nur das jüngste Beispiel. Lieferengpässe bei Medikamenten sind längst Normalität, vor der wir Apotheker schon lange warnen.
In meiner Apotheke nehmen die Engpässe seit Jahren zu. Für zahlreiche Krankheiten können wir keine maßgeschneiderte Therapie anbieten. Aktuell fehlen bei uns 280 verschiedene Arzneimittel. Darunter auch: der Pneumokokken-Impfstoff, der gerade für Corona-Risikopatienten wichtig wäre. Er schützt vor einer bakteriellen Lungenentzündung. Aber die Schubladen und Kühlschränke sind leer. Keiner kann vorhersehen, wann Nachschub kommt. Oder welches Medikament als nächstes fehlt. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass es durch die Corona-Krise mittelfristig zu neuen Engpässen kommen könnte, weil Lieferungen von Wirkstoffen aus China oder Indien ausfallen. Doch aus der Politik kommen allzu oft nur Beschwichtigungen.
Allein im vergangenen Jahr hat sich die Zahl der knappen Medikamente laut einer Auswertung des Deutschen Arzneiprüfungsinstituts von 9,3 auf 18 Millionen fehlende Packungen verdoppelt. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte listet aktuell weit mehr als 300 Medikamente mit Lieferschwierigkeiten, wobei längst nicht alle Engpässe erfasst werden.
Schon vor Corona griffen manche Patientinnen zu extremen Maßnahmen. Kollegen erzählen von Kunden, die Apotheker bestechen wollten, um an knappe Präparate zu kommen. Aus dreißig Berufsjahren weiß ich: So einen Mangel an Medikamenten wie heute hatten wir noch nie. Nicht nur Corona-Infizierten droht ausbleibende Hilfe – auch anderen Notfallpatienten und Menschen mit schweren Krankheiten: Erst vor Kurzem rief mich eine Kollegin in heller Freude an, nachdem unverhofft fünf Packungen Venlafaxin bei ihr reingekommen waren. Das ist ein Standardmittel gegen schwere Depressionen, das lange nicht lieferbar gewesen war.
Corona wirft ein Schlaglicht auf ein krankes, weil allzu kostenorientiertes System. Der deutsche Arzneimittelmarkt ist führend im Preisdumping. Das macht uns abhängig von Ländern wie China und Indien, die billig für uns und den Rest der Welt produzieren.
Aus Fernost beziehen wir so gut wie alle unsere Generika. Das sind Medikamente mit abgelaufenem Patent wie Schmerzmittel, Blutdrucksenker, Antibiotika oder Antidepressiva. Wo genau sie aus Fernost herkommen, lässt sich in der Apotheke gar nicht bestimmen. Nur eins ist klar: meist nicht von den deutschen Herstellern, deren Name dann trotzdem oft auf der Packung steht. Die allermeisten Grundstoffe für Antibiotika beispielsweise kommen aus China und werden in Indien weiterverarbeitet – in Pharmafirmen mit teils minimalen Kontrollstandards. Wenn Fieber oder Blutdruck in die Höhe schnellen, verlässt sich Deutschland auf ein paar wenige Fabriken am anderen Ende der Welt. Das macht unser Gesundheitssystem verletzbar. Es kommt reichlich spät, wenn Bundesgesundheitsminister Jens Spahn nun in der Corona-Krise erklärt, Deutschlands Arzneimittelversorgung müsse unabhängiger von China werden. Allein in Wuhan werden Wirkstoffe für fast 20 in Deutschland zugelassene Medikamente produziert.
Aber selbst wenn wir im Herbst die größten Versorgungsprobleme der Corona-Krise gemeistert haben sollten: Was passiert, wenn dann Lieferketten für Antibiotika oder Schmerz- und Fiebermittel abbrechen? Haben wir dann "Corona gemeistert", versagen jedoch bei der Behandlung von normalen Infektionskrankheiten?
Was Krisen vor Ort anrichten können, zeigte sich schon beim Valsartan-Skandal vor zwei Jahren: Ein chinesischer Hersteller stellte die Synthese des Blutdrucksenkers um, damit er noch billiger produzieren konnte. Erst hinterher entdeckte man, dass das neue Präparat mit potenziell krebserregenden Stoffen verunreinigt war. Einige Hunderttausend Patientinnen und Patienten hierzulande hatten das Medikament regelmäßig eingenommen. Es gab kaum genug andere Wirkstoffhersteller, die Valsartan noch nach der alten Synthese produzierten. Ein hoher zweistelliger Marktanteil ließ sich nicht so einfach kompensieren.
Hauptverantwortlich für solche Lieferengpässe ist der extreme Preisdruck. Krankenkassen sparen sich Kosten über Rabattverträge. Diese schließen sie oft nur mit einem einzigen Hersteller – mit dem billigsten. Er gewährt der Kasse einen Rabatt, wenn sie ihre Mitglieder bevorzugt mit seinem Präparat versorgt. An sich ist gegen Rabattverträge nichts zu sagen: Sie sparen dem Gesundheitssystem Geld, das beispielsweise für teure Gentherapien gebraucht wird. Aber mit einseitigen Super-Sparverträgen dünnen sie auch den Markt aus.
Arzneimittelproduzenten, die nicht nach Fernost outsourcen, können mit den Dumping-Preisen meist nicht konkurrieren. Auch fahren alle anderen Hersteller ihre Produktion runter, da sie in der Regel nicht genügend Abnehmer finden, wenn sie bei den Verträgen nicht zum Zug kommen.
Das spüren im Zweifel unsere Patienten. Bislang bekamen sie jedes zweite oder dritte Mal neue Präparate – immer dann, wenn die Rabattverträge neu ausgeschrieben wurden. Jetzt gibt es jedes Mal zwei neue Mittel. Tabletten also, die sich mal in Aussehen, mal in der Bioverfügbarkeit ändern. Das verwirrt gerade ältere Menschen. Am vergangenen Wochenende musste ich eine ältere Dame in die Apotheke bitten, damit sie bloß nicht ihren Blutdrucksenker mit dem Mittel gegen Herzrhythmusstörungen verwechselt.
Inzwischen bitten wir Kunden schon, nicht erst in die Apotheke zu kommen, wenn die Tablettenschachtel leer ist, sondern zwei Wochen früher. Ärzte sehen es nicht gern, wenn Patienten Medikamentenvorräte anlegen. Und tatsächlich wäre es jetzt das Schlimmste, wenn jeder Medikamente horten würde. Das löst die Ursache der Engpässe nicht.
Wir müssen also endlich an die Rabattverträge ran. So wie sie derzeit ausgeschrieben werden, zahlen wir alle längst drauf. Wir Apotheker, weil wir uns in stundenlanger Mehrarbeit mit einer Mangel-Bürokratie herumschlagen müssen, die uns die Kassen nicht vergüten. Die Patienten, deren Therapie riskanter, oft teurer und manchmal schlechter wird. Aber auch die Menschen vor Ort in China und Indien, wo sich kaum einer um Sozial- und Umweltstandards schert.
Auch wenn die Rabattverträge in der Corona-Krise ausgesetzt sind, muss der Gesetzgeber danach dringend handeln. So sollte er vorschreiben, dass die Verträge nicht nur mit einem Hersteller geschlossen werden, sondern mit mindestens dreien, die ihre Wirkstoffe wiederum von verschiedenen Lieferanten beziehen – und dass möglichst auch ein europäischer Anbieter berücksichtigt werden muss. Wenn irgendwo eine Krise ausbricht, gäbe es noch andere Produzenten. Am besten wäre es, wenn wir so auf EU-Ebene gezielt europäische Player fördern, die uns dann auch über Krisen und Engpässe schnell hinweghelfen könnten.
Das allein seligmachende Kriterium darf jedoch nicht wieder der billigste Preis sein. Sonst wird die Belastung nur noch größer. Neulich zum Beispiel hatten wir Venlafaxin in der 300-mg-Variante nicht vorrätig. Aber das Antidepressivum kann man nicht einfach absetzen, man muss es ausschleichen lassen. Unseren Patienten gaben wir Stückelungen niedrigerer Dosen, bis wir irgendwann gar nichts mehr in der Apotheke hatten. Wenn das passiert, beginnt die Telefoniererei. Haben andere Apotheken vielleicht noch eine Schachtel in der Schublade? Notfalls müssen wir die Ärzte darum bitten, den Kunden ein neues Rezept für das teurere Original auszustellen. Der Grund, warum die Versorgung mit Medikamenten noch einigermaßen funktioniert, sind Apotheker, die schon lange hohe Überstunden leisten, um den Mangel zu managen.
Das ist aber keine Lösung! Bei der Versorgung mit lebensnotwendigen Medikamenten zählt vor allem Verlässlichkeit. Es ist der Staat, der hier die Voraussetzungen für die Daseinsvorsorge zu schaffen hat.“ (ZEIT ONLINE, 21.04.2020, Protokoll: Tobias Maydl)